Heliographie Projekt 1827–2027
Von der Heliographie über Google Street View bis zu KI-generierten Bildern.
Die älteste bis heute erhaltene Fotografie der Welt
Im Spätsommer 1827 hielt Joseph Nicéphore Niépce nach mehreren Tagen der Belichtung die älteste bis heute erhaltene Fotografie der Welt in den Händen – Blick aus dem Fenster in Le Gras (französisch: Point de vue du Gras). Die Aufnahme (16,5 × 21 cm) zeigt den Ausblick aus dem Fenster seines Ateliers in Le Gras (Saint-Loup-de-Varennes, Frankreich). Niépce fertigte das Foto mit einer Camera Obscura auf einer Zinnplatte an, die er mit in Lavendelöl gelöstem Naturasphalt beschichtet hatte. Er nannte das Verfahren Heliografie – abgeleitet aus dem Griechischen, „mit Sonne gezeichnet“. Obwohl der Prozess aufwendig und langwierig war, markierte er einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte: den ersten erfolgreichen Versuch, einen flüchtigen Moment dauerhaft festzuhalten. Das entstandene Bild, zart und kaum sichtbar, war ein leiser, aber revolutionärer Triumph über die Vergänglichkeit. Mit dieser Technik wurde das bisher Unfassbare greifbar – auf Metall fixiert, konserviert und transportierbar.
Die Magie der Bilder
In einer Zeit, in der Bilder vorwiegend digital generiert und konsumiert werden, habe ich mich oft gefragt, ob sie die gleiche Magie und den Wert der ersten Fotografien bewahren können. Digitale Bilder sind in ihrer Essenz ewig – als Bits und Bytes in der digitalen Welt gespeichert, frei von der Zeit und ihrem Einfluss. Doch diese Unveränderlichkeit entzieht ihnen jene menschliche Qualität, die die ersten Fotografien so besonders machte.
Ich glaube, dass Bilder erst durch ihre physische Form, die dem Zahn der Zeit und den Widrigkeiten des Lebens ausgesetzt ist, ihre ursprüngliche Magie zurückgewinnen. In ihrer realen Inkarnation als Träger unserer Erinnerungen und als Beweis für die Vergänglichkeit des Moments, können sie im Sinne von Barthes Überlegungen zur Fotografie ihre Wirkung auf den Betrachter entfalten. Roland Barthes spricht von „es ist gewesen“ („ça a été“), was den Beweischarakter der Fotografie betont – das Bild als Zeugnis, dass etwas wirklich existiert hat. Dieser Vorgang der Übertragung von „digital“ zu „materiell“ gehört ebenso dazu. Auf diese Weise wird das Bild zu einem integralen Bestandteil der Realität, die sich in der digitalen Welt nicht vollständig fassen lässt.
Google Street View
180 Jahre nachdem Niépce die erste Fotografie herstellte, im Jahr 2007, veröffentlichte Google die ersten Aufnahmen seines Street View-Projekts. Kameras, montiert auf Autos, Drohnen und Rucksäcken, begannen, die Welt zu dokumentieren und ein gigantisches globales Bildarchiv zu erschaffen. Diese Technologie funktioniert nahezu autonom – Kameras erfassen die Realität, während Algorithmen jeden einzelnen Frame automatisch katalogisieren. Heute dokumentieren Hunderte Milliarden Bilder unseren Alltag und hinterlassen eine digitale Spur der Gegenwart.
Der Google Street View Alltag, eingefangen vor dem Hintergrund des Asphalts, erschafft eine mehrschichtige Erzählung, in der jedes Detail – ein Blick aufs Handy, ein zufälliger Schatten – beginnt, Raum und Zeit zu definieren. So hört der öffentliche Raum auf, bloße Kulisse zu sein; er wird zur Bühne, auf der wir, oft unbewusst, als Akteure eine gemeinsame Identität mitgestalten.
Street View-Fotografien sind digitale Aufzeichnungen der Realität, doch ihr Wert ergibt sich aus ihrer Verbindung zur materiellen Welt – sie dokumentieren reale Orte und Momente und fungieren als eine Art Abdruck der Wirklichkeit. Dies entspricht Roland Barthes These, dass Fotografie eine Spur der Vergangenheit und ein materieller Beweis für das ist, was existiert hat
KI-generierte Bilder, die Träume eines digitalen Geistes
Von künstlicher Intelligenz generierte Bilder hingegen sind ein völlig anderes Phänomen. Sie entstehen nicht durch die Erfassung eines bestimmten Moments, sondern durch algorithmische Imagination – Schöpfungen ohne direkte Referenz zur Realität. Sie gleichen den Träumen eines digitalen Geistes: abstrakt, losgelöst von Zeit und Raum. Ihnen fehlt jene Authentizität, die sich aus dem Festhalten eines flüchtigen Augenblicks ergibt. Im Gegensatz zu Fotografien, die Wirklichkeit dokumentieren, tragen KI-generierte Bilder kein punctum (Barthes) in sich – jenen emotionalen Funken, der einer Fotografie Tiefe und eine persönliche Dimension verleiht.